In den vergangenen 5 Jahren wurden zahlreiche Studien veröffentlicht, die asthmatische Beschwerden, Hodenhochstand und mentale Entwicklungsauffälligkeiten beim Kind im Zusammenhang mit einer Paracetamoleinnahme der Mutter in der Schwangerschaft diskutierten. In der deutschsprachigen (fach)öffentlichen Verarbeitung wurde wiederholt die jeweils neueste Studie als (weiterer) Beleg für toxische Effekte des Paracetamol dargestellt. Im Zusammenhang mit tierexperimentellen Daten und postulierten Schädigungsmechanismen scheint eine ursächliche Beziehung auf der Hand zu liegen. Werden dann die Einnahmehäufigkeiten – bis zu 90% der Schwangeren in manchen Ländern nehmen Paracetamol – betrachtet, ergibt sich der Eindruck epidemischer Schädigungshäufigkeiten.
Wie soll man damit umgehen?
Das Gegenteil zu behaupten, nämlich die Unbedenklichkeit von Paracetamol, ist keineswegs möglich, da entsprechend angelegte große Studien nicht vorliegen, aus denen sich die Abwesenheit eines Risikos mit Sicherheit herleiten ließe. Dies gibt es übrigens zu keinem Arzneimittel. Andererseits sind Zweifel an der Gewissheit suggerierenden Auslegung der o.g. Studien durchaus angebracht. So ist zu bedenken, dass es ein typisches Phänomen ist, dass, nachdem erst mal eine Studie mit Auffälligkeiten erschienen ist, gehäuft andere Autoren sich desselben Themas annehmen. Auffällige Studienergebnisse werden von Autoren und Zeitschriften eher veröffentlicht als unauffällige Ergebnisse. In den o.g. Paracetamol-Studien werden zwar statistische Signifikanzen errechnet, diese waren aber in den meisten Fällen von moderatem Ausmaß, basierten auf relativ kleinen Teilkohorten der Ursprungspopulation (Selektionsrisiko), standen mal mit einer Einnahme im 1. Trimenon, mal mit dem 3. Trimenon in Beziehung und konnten meist keinem speziellen Einnahmemuster -kontinuierliche oder gelegentliche Einnahme - zugeordnet werden. Angaben zu Dosis, Co-Medikation sowie zahlreichen anderen vor- und nachgeburtlichen Einflussfaktoren waren unvollständig oder fehlten. Zum Teil war die Paracetamoleinnahme des Vaters genauso signifikant mit den Entwicklungsauffälligkeiten beim Kind assoziiert wie die der Mutter. In vielen dieser Studien beurteilen auch die Autoren selbst ihre Ergebnisse sehr zurückhaltend. Statistisch signifikante Assoziationen allein beweisen niemals Kausalität.
Am Beispiel der kürzlich erst publizierten und vielfach als Hinweis auf Sprachentwicklungsstörungen zitierten sogenannten SELMA-Studie zu Paracetamol im 1. Trimenon sollen einige Aspekte erwähnt werden, die zur vorsichtigen Interpretation der Ergebnisse Anlass geben: Die Studienpopulation macht nur einen kleinen Anteil der ursprünglich rekrutierten Schwangeren (754 von 6658) aus, so dass ein Selektionsfehler nicht auszuschließen ist. Bisherige Erkenntnisse sprechen dafür, dass die empfindliche Phase für moderate Einschränkungen in der Sprachentwicklung eher später in der Schwangerschaft, also nach dem 1. Trimenon liegt. Schon sehr geringe Mengen von Paracetamol (1- 6 Tabletten!) führen in dieser Studie zu einem nicht-signifikant erhöhten Risiko (OR bis etwa 4), bei mehr als 6 Tabletten wird das Ergebnis signifikant. Die signifikanten Ergebnisse beruhen auf relativ geringen Fallzahlen exponierter Mädchen (deutlich unter 100), was sich in den extrem weiten Vertrauensintervallen der Ergebnisse niederschlägt. Zur Ursachenforschung einer Sprachentwicklungsverzögerung müssen zahlreiche potentiell einflussnehmenden Faktoren vor und nach Geburt berücksichtigt werden, was in dieser Studie offenbar nicht geschah. Inwieweit tatsächlich eine Sprachentwicklungsverzögerung vorliegt, ist ohne einschlägige Fach-Diagnostik nicht mit Sicherheit festzustellen, jedenfalls nicht allein mit der Elternangabe zum Wortschatz von über oder unter 50 Wörtern.
Die in der SELMA-Studie beobachteten Zusammenhänge zwischen Paracetamol und Sprachentwicklung mit ungünstigem „Effekt“ bei Mädchen und, im Gegensatz dazu, einer leicht positiven Wirkung bei Jungen können nicht plausibel erklärt werden. Die von den Autoren postulierten durch Paracetamol verursachten hormonellen Störungen mit Auswirkung auf die Sprachentwicklung sind in keiner Weise belegt.
Auch schon vor Erscheinen der ersten Studie zur Langzeitentwicklung nach intrauterinen Exposition galten weder Paracetamol noch Ibuprofen, kürzlich in experimentellen Arbeiten auch in Zusammenhang mit einer Minderung der Oozytenreserven weiblicher Feten diskutiert, als erwiesenermaßen unbedenklich in der Schwangerschaft. Dieses Attribut verbietet sich ohnehin für ein therapeutisch wirksames Arzneimittel.
Allerdings gibt es auch keinen Nachweis der Unbedenklichkeit für unbehandelte ernsthafte Erkrankungen, Schmerzzustände und Fieber in der Schwangerschaft. Erhebliche körperliche und psychische Beeinträchtigungen der Mutter können sich auf die Entwicklung des Kindes auswirken.
Was wir brauchen, ist also nicht nur eine vergleichende Risikobewertung zwischen Arzneimitteln vergleichbarer Wirksamkeit sondern auch eine vergleichende Risikobewertung zwischen dem bestverträglichen Arzneimittel und der unbehandelten mütterlichen Symptomatik. Lässt man diesen Aspekt außer acht und deutet statistische Signifikanzen, tierexperimentelle Ergebnisse und hypothetische Schädigungsmodelle unkritisch im Sinne klinisch relevanter Kausalität, wird man der Situation nicht gerecht.
Ein Beispiel hierzu aus dem Schmerzmittelbereich war die vorschnelle Empfehlung vor 10 Jahren in Nordamerika, komplett auf Codein in der Stillzeit zu verzichten nach der Veröffentlichung eines Todesfalls bei einem 13 Tage alten gestillten Säugling. In einer Studie konnte anschließend gezeigt werden, dass nach der pauschalen Warnung vor Codein deutlich mehr Oxycodon, Hydromorphon und Tramadol verordnet wurden, also Opioide, die deutlich schlechter in der Stillzeit erprobt sind, stärker wirken und teilweise den gleichen Abbauweg über CYP 2D6 mit seinen klinisch relevanten Polymorphismen aufweisen wie das zu Morphin verstoffwechselte Codein. Hier wäre es sinnvoller gewesen, darauf hinzuweisen, dass Codein im Wochenbett nur für maximal 1-3 Tage verordnet wird (wenn Ibuprofen als Analgetikum der 1. Wahl in der Stillzeit nicht ausreichend wirkt) und aufmerksam auf Symptome beim Kind zu achten ist – wie bei allen zentral wirksamen Arzneimitteln in der Stillzeit.
Im 3. Trimenon der Schwangerschaft gibt es als Alternative zu Paracetamol nur Opioide und Metamizol (in vielen Ländern nicht zugelassen), die aber kaum als besser untersucht und weniger bedenklich angesehen werden können.
Wie oben bereits angedeutet, spricht eine Häufung von Studien mit auffälligen Ergebnissen zu einem Arzneimittel nicht für die Unbedenklichkeit der anderen Arzneimittel, zu denen vergleichbare Studien in ähnlichem Umfang gar nicht durchgeführt wurden.
Nicht zuletzt sollte die erhebliche Verunsicherung einer Frau betrachtet werden, die in der Schwangerschaft vor deren Feststellung Paracetamol eingenommen hat und nun in großer Sorge ist oder die aufgrund nicht anders zu behandelnder Schmerzen oder Fieberepisoden auf Paracetamol nicht verzichten kann. Unsere täglichen Beratungserfahrungen lehren, dass die Verzweiflung infolge einer Überschätzung des individuellen Risikos zu irrationalen Entscheidungen führen kann bis zum Abbruch einer Schwangerschaft, zu jahrelangen Ängsten und Schuldgefühlen, die sich letztlich auch ungünstig auf die Kindsentwicklung auswirken können.
Die Konsequenz aus alledem ist nicht, Schwangere zur bedenkenlosen Einnahme von Paracetamol zu ermuntern, sondern bei Schmerzen und hohem Fieber, die eine Arzneimitteltherapie erfordern, Paracetamol oder – bis Woche 28- auch Ibuprofen als Mittel der Wahl zu empfehlen. Eine unkritische Einnahme ist allerdings - wie bei allen Arzneimitteln - zu unterlassen. Dies ist besonders jenen Schwangeren zu vermitteln, die bereits bei moderaten Beschwerden regelmäßig Arzneimittel einnehmen.