Gefördert durch

Zwangserkrankung

in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. med. Anke Rohde und Prof. Dr. med. Sarah Kittel-Schneider

Bei einer Zwangserkrankung leiden die Betroffenen unter Zwangshandlungen und/oder Zwangsgedanken. Als Zwangsgedanken bezeichnet man unerwünschte, sich aufdrängende Vorstellungen, die mit unangenehmen Gefühlen wie Angst oder Ekel verbunden sind. Zwangshandlungen sind stereotype Handlungsfolgen, die von den Betroffenen durchgeführt werden, um ein eigentlich unwahrscheinliches Ereignis abzuwenden und Angstgefühle oder Unruhe zu reduzieren. Die Betroffenen haben ein gewisses Ausmaß an Einsicht in die Unsinnigkeit dieser Handlungen und versuchen deshalb zumindest gelegentlich, die Zwangshandlungen zu reduzieren oder zu unterdrücken. Ein Teil der Betroffenen weist zusätzlich zwanghafte Persönlichkeitszüge auf. Bei ausgeprägten Zwangssymptomen können sich die Ängste für die Betroffenen ins Unerträgliche steigern. Nicht selten kommt es dann zu Konflikten mit Angehörigen, z.B. wenn diese versuchen, Zwangsrituale (wie etwa wiederholtes Händewäschen oder Kontrolle von elektrischen Geräten) abzukürzen oder zu verhindern.

Während der Schwangerschaft und vor allem im Wochenbett treten Zwangssymptome deutlich häufiger auf als in anderen Lebensphasen. Oftmals verschlechtert sich eine bestehende Zwangsstörung, selbst wenn sie durch Psychotherapie und/oder Medikation suffizient behandelt war. Auch Ersterkrankungen treten häufiger auf, werden allerdings unter Umständen zu selten diagnostiziert und behandelt. Die Ursache für das Auftreten bzw. die Verstärkung von Zwangssymptomen liegt wahrscheinlich in einem Zusammentreffen von hormonellen Veränderungen und psychologischen Herausforderungen (z.B. ableitbare Ängste vor der umfassenden Verantwortung für das Neugeborene, innere Konflikte). Postpartal scheinen auch Schlafmangel und unspezifische Stressfaktoren eine Rolle zu spielen.

Diese psychologischen Herausforderungen gibt es auch für Väter: bei diesen scheint peripartal ebenfalls ein erhöhtes Risiko dafür zu bestehen, dass Zwangssymptome exazerbieren oder neu auftreten.

Spezifische Symptomatik. Während der Schwangerschaft können sich Gedanken aufdrängen, die bis dahin so nicht vorgekommen sind und keinesfalls umgesetzt werden dürfen – wie etwa Gedanken oder Impulse, sich selbst in den Bauch zu schlagen und damit das Ungeborene zu verletzen. Vor allem postpartal treten oft Zwangsgedanken bezüglich einer versehentlichen oder absichtlichen Schädigung des Säuglings auf. Solche Gedanken (manchmal sogar als Handlungsimpulse erlebt) sind für betroffene Mütter oft derartig quälend und beschämend, dass sie sie nicht spontan berichten. Verschiedene Studien zeigen allerdings, dass sich aufdrängende Gedanken oder Bilder, die eine Schädigung des Säuglings beinhalten, auch bei psychisch gesunden Müttern ein sehr häufiges Phänomen sind. Diese Tatsache kann zwangserkrankte Patientinnen bereits deutlich entlasten, insbesondere wenn sie mit der Erkenntnis verbunden ist, dass das Auftreten dieser Vorstellungen nichts über die elterlichen Qualitäten der Betroffenen aussagt.

Bei postpartalen Zwangsgedanken mit aggressiven Inhalten entwickeln die Patientinnen meist ein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten, um die befürchtete Gefährdung von ihrem Neugeborenen abzuwenden. Das kann so weit gehen, dass die Versorgung und das Alleinsein mit dem Kind schließlich weitgehend vermieden wird. Bei Zwangsgedanken, die eine versehentliche Schädigung des Neugeborenen beinhalten, resultieren oft Kontrollhandlungen (z.B. Kontrollen des Neugeborenen zum Ausschluss von Verletzungen oder Hämatomen). Der Entwicklung einer zufriedenstellenden Mutter-Kind-Beziehung können solche Symptome im Wege stehen.

Differenzialdiagnose. Bei aggressiven Impulsen, die sich gegen den Feten/das Neugeborene richten, muss ausgeschlossen werden, dass es sich um fremdgefährdende Impulse handelt, wie sie im Rahmen von Psychosen oder wahnhaften Depressionen auftreten können. Diese sind mit einer realen Gefährdung des Säuglings verbunden, während Zwangsgedanken oder -impulse nicht mit einer Gefährdung des Kindes einhergehen. Vielmehr sind von Zwangsgedanken oft Frauen betroffen, die einen hohen Anspruch an sich selbst haben und über ein hohes Verantwortungsgefühl verfügen, gleichzeitig aber die Sorge haben, ihren Ansprüchen nicht gerecht werden zu können. Auch eine Depression kann mit Zwangssymptomen einhergehen; umgekehrt können ausgeprägte Zwangssymptome während der Peripartalzeit auch zu depressiven Verstimmungen führen. Dies darf bei der Therapieplanung nicht übersehen werden.

Besonderheiten einer Therapie in der Schwangerschaft

Bisher gibt es heterogene und noch unzureichende Ergebnisse auf die Frage, ob Zwangserkrankungen per se zu erhöhten Risiken für Schwangerschaftskomplikationen oder neonatale Auffälligkeiten führen. Zu erwarten ist bei entsprechender Schwere der Symptomatik ein negativer Einfluss auf die Lebensqualität und dadurch ggf. auch auf die körperliche und seelische Gesundheit sowie die sozialen Beziehungen.

Während Schwangerschaft und Stillzeit kann sowohl eine psychotherapeutische als auch eine pharmakologische Behandlung durchgeführt werden. Als Psychotherapie der Wahl gilt wie auch in anderen Lebensphasen eine kognitive Verhaltenstherapie mit Exposition und Reaktionsmanagement. Diese muss ggf. an die spezifischen Inhalte der peripartalen Zwangserkrankung angepasst werden. Pharmakologisch werden in der Regel zunächst Serotonin-Wiederaufnahme-Inhibitoren (SSRI) zur Behandlung der Zwangserkrankung eingesetzt. Während Schwangerschaft und Stillzeit eignen sich bei einer medikamentösen Neueinstellung vor allem Sertralin und Citalopram (in Deutschland nicht speziell für die Behandlung von Zwangserkrankungen zugelassen) sowie auch Escitalopram. Bei einer medikamentösen Neueinstellung sollte auf das ansonsten gut wirksame Fluoxetin wegen der langen Halbwertzeit und der damit schlechteren Steuerbarkeit in der Schwangerschaft verzichtet werden. Auch andere Psychopharmaka, die zur Behandlung von Zwangserkrankungen eingesetzt werden (z.B. Risperidon und Aripiprazol), weisen ein akzeptables Sicherheitsprofil für die Schwangerschaft und die Postpartalzeit auf. Diesbezügliche Informationen, auch zu den übrigen SSRI und zu Clomipramin, finden sich auf den entsprechenden Arzneimittelinformationsseiten.

Insgesamt bildet die psychische Stabilität der Patientin eine gute Basis für einen möglichst komplikationsarmen Schwangerschaftsverlauf und eine zufriedenstellende Entwicklung der Mutter-Kind-Beziehung. Veränderungen der Medikation oder Dosierung aufgrund von Kinderwunsch/Schwangerschaft sollten deshalb nur nach sorgfältiger Nutzen-Risiko-Abwägung vorgenommen werden. Dabei ist neben dem Sicherheitsprofil der einzelnen Arzneimittel auch zu bedenken, dass sich das Risiko für eine Verschlechterung der Zwangssymptomatik durch das Absetzen einer wirksamen Medikation weiter erhöht.  

Auch wenn die Zwangssymptome stabil auf einem niedrigen Niveau sind, sollte der Schwangeren eine engmaschige gynäkologische und psychiatrisch-psychotherapeutische Begleitung angeboten werden, in der Regel auch eine weiterführende Ultraschalldiagnostik zur Bestätigung einer unauffälligen fetalen Entwicklung.

Zwangssymptome nach der Entbindung. Besteht schon vor oder während der Schwangerschaft eine Zwangssymptomatik, verschlechtert sich diese häufig nach der Entbindung. Aus diesem Grund ist es meist nicht sinnvoll, vor der Entbindung die Dosis einer wirksamen Pharmakotherapie zu reduzieren. Wenn allerdings eine Dosisreduktion vor der Entbindung erfolgt, muss die Dosis sofort nach der Geburt wieder erhöht werden. Wenn Zwangsgedanken im Wochenbett neu auftreten, handelt es sich oft auch um Symptome einer postpartalen Depression („Wochenbettdepression“, siehe Depression nach der Entbindung). In diesem Fall klingen die Zwangssymptome mit Behandlung der Depression ab.

Stillzeit. Wird die Zwangserkrankung mit einer pharmakologischen Monotherapie behandelt, kann meistens voll gestillt werden. Informationen finden sich auf den entsprechenden Arzneimittelinformationsseiten. Bei einer medikamentösen Neueinstellung während der Stillzeit sollten Arzneimittel vorgezogen werden, die nur in geringem Umfang über die Muttermilch zum Kind gelangen (also mit geringer relativer kindlicher Dosis/RID) und die im kindlichen Organismus nicht akkumulieren. Auch sollten sie gegebenenfalls für eine weitere Schwangerschaft geeignet sein. Dies trifft bei den SSRI zum Beispiel auf Sertralin und Citalopram/Escitalopram zu. Eine psychopharmakologische Kombinationsbehandlung ist kritischer zu beurteilen, schließt das Stillen aber nicht unbedingt aus. Gegebenenfalls kann auch ein Teilstillen mit Zufüttern von Pre-Nahrung erwogen werden, insbesondere bei ausgeprägtem Stillwunsch. Immer wenn während einer Psychopharmakotherapie gestillt wird, sollten Kinderarzt und betreuende Hebamme informiert sein, um gemeinsam mit den Eltern eine gute Beobachtung des Kindes zu gewährleisten. Wenn beim gestillten Kind Symptome neu auftreten, die nicht anderweitig erklärbar sind (z.B. Sedierung, gastrointestinale Störungen, Trinkschwäche oder Unruhe), kann beim Kind der Serumspiegel des mütterlichen Medikamentes gemessen werden. Dieser kann Aufschluss darüber geben, ob und in welchem Ausmaß vom Stillkind pharmakologisch wirksame Mengen der mütterlichen Medikation aufgenommen wurden.

Mittel der Wahl

Bei medikamentöser Neueinstellung sind Sertralin oder Citalopram/Escitalopram Mittel der Wahl. Eventuelle Vorerfahrungen bezüglich Wirksamkeit und unerwünschten Wirkungen sollten bei der Auswahl der Medikation auch während der Schwangerschaft berücksichtigt werden. Bei einer bereits bestehenden, gut wirksamen Medikation sollte zunächst geprüft werden, ob sie während der Schwangerschaft weiter eingenommen werden kann.


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